Wikipedia-Eintrag:
Günther Anders (1902-1992)
(* 12. Juli1902 als Günther Siegmund Stern in Breslau; † 17. Dezember1992 in Wien) war ein naturalisierter österreichischer Sozialphilosoph und Schriftsteller deutsch-jüdischer Herkunft.
Anders beschäftigte sich mit den technischen und ethischen Herausforderungen der Gegenwart seiner Zeit. Sein Hauptthema war die Zerstörung der Humanität. Er war Mitbegründer und führende Persönlichkeit der Antiatombewegung, dezidierter Technikkritiker und Medienphilosoph. Er ist auch als Verfasser von Erzählungen und Gedichten hervorgetreten. Von 1929 bis 1937 war er mit der politischen Philosophin Hannah Arendt verheiratet. Durch seine Distanzierung von der wissenschaftlichen Hochschulphilosophie seiner Zeit ist Anders in der Philosophie heute kaum noch ein Begriff.
Günther Sterns Eltern waren die jüdisch-deutschen Psychologen William Stern und Clara Stern. In ihrem Standardwerk Psychologie der frühen Kindheit finden sich viele Beobachtungen über Günther und seine Geschwister. 1915 zog die Familie von Breslau nach Hamburg. Als 15-jähriger erlebte Günther Stern die erste prägende Zäsur seines Lebens, als er während einer Einsatzfahrt mit Gleichaltrigen nach Frankreich auf dem Weg verstümmelte Soldaten des Ersten Weltkrieges sah:
- „Unterwegs, auf einem Bahnhof, wohl in Lüttich, sah ich eine Reihe von Männern, die sonderbarerweise an den Hüften anfingen. Das waren Soldaten, die man auf ihre Stümpfe gestellt und an die Wand gelehnt hatte. So warteten sie auf den Zug in die Heimat.“ [1]
Dieses Erlebnis und die ersten Erfahrungen mit Antisemitismus (Anders wurde von nationalistischen Mitschülern gemobbt) führten zu Günther Sterns Wandlung zum Pazifisten, Moralisten und Befürworter des Völkerbundes. Schon 1917 gründete er mit zwei Jugendfreunden Europa Unita, den Bund für ein vereinigtes Europa ohne Grenzen:
- „Bei Kerzenlicht übermalten wir auf einer Karte von Europa mit weißer Farbe die Grenzen und schnitten uns E. U. in die Handflächen. Wir bluteten wie die Schweine und rannten zur Krankenschwester, einer Elsässerin. Die verstand sofort und wurde das dritte Mitglied. Durch dieses Erlebnis wurde ich zum Moralisten gemacht.“[1]
Stern studierte Philosophie bei Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Edmund Husserl. Er promovierte 1923 bei Husserl an der Universität Freiburg über Phänomenologie. Ein Habilitationsversuch 1929 an der Universität Frankfurt bei Paul Tillich mit der Schrift Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen scheiterte am Einspruch Theodor W. Adornos. Nach dem Studium lebte Anders einige Jahre von philosophisch-essayistischen Vorträgen, journalistischer und belletristischer Arbeit für Fachzeitschriften, Radiosender und Zeitungen von Paris bis Berlin.
Ehe mit Hannah Arendt
Günther Stern lernte Hannah Arendt 1925 als Philosophie-Studentin in Marburg kennen, und beide zogen in Berlin im Jahr 1929 schon vor ihrer Heirat zusammen. Ihre Ehe währte bis 1937, und Arendt nannte sich in dieser Zeit kurzzeitig Stern. Nach einem kurzen Aufenthalt in Heidelberg lebte das Ehepaar ein Jahr in Frankfurt. Stern arbeitete in dieser Zeit vor allem an einer systematischen philosophischen Anthropologie. Es gelang ihm zunächst bei Max Wertheimer, Paul Tillich und Karl Mannheim Interesse an seiner Habilitation zur Philosophie der Musik zu wecken. Als Adorno wegen einer vermeintlichen Heidegger-Nähe von Anders und aus qualitativen Gründen heftigen Einspruch gegen dessen Arbeit erhob und die Habilitation bei Tillich in Frankfurt gescheitert war, zog das Ehepaar wieder nach Berlin. 1979, im Gespräch mit Mathias Greffrath, berichtete Anders, dass er 1930 von den Wissenschaftlern vertröstet worden sei: „Jetzt kommen erst einmal die Nazis dran für ein Jahr oder so. Wenn die dann abgewirtschaftet haben, werden wir Sie habilitieren.“[2]
Beim Berliner Börsen-Courier schrieb Stern derart viele Beiträge, dass der Chef des Feuilletons, Herbert Ihering, um nicht die Hälfte aller Artikel unter einem einzigen Namen zu veröffentlichen, dem Verfasser vorschlug, ein Pseudonym zu benutzen. Günther Stern wählte den Namen Günther Anders. Diesen Namen nutzte er später für seine Veröffentlichungen ausschließlich.
Exil in Paris
Günther Anders nahm die Ankündigungen und Anfänge der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ernst und emigrierte kurz nach dem Reichstagsbrand im März 1933 für drei Jahre nach Paris. Die MachtergreifungHitlers und die Meldung über die Einrichtung von Konzentrationslagern nennt Anders die zweite große Zäsur seines Lebens, die ihn zum ausgeprägt politischen Intellektuellen und Schriftsteller machte.
Hannah Arendt, die ihm, gleichfalls 1933, kurze Zeit später ins Exil nach Paris folgte, brachte ihm das Typoskript seines Romans Die molussische Katakombe nach Paris mit. „Inhalt des Buches war die Mechanik des Nationalsozialismus“; seinen Rahmen bildet die Situation zweier Häftlinge in finsterem Verlies, deren älterer dem jüngeren die Überlieferung des Widerstandes der Paria gegen die totalitäre Herrschaft erzählt. Der Versuch, das Buch im einzigen dafür in Frage kommenden deutschsprachigen Verlag in Paris zu veröffentlichen, scheiterte, nach Anders Darstellung, an dem gleichfalls aus Berlin geflüchteten Lektor Manès Sperber, damals ein Partei-Kommunist, der es mit der Frage „Und das halten Sie für linientreu?“ ablehnte.[3] Auch die im Frühjahr 1933 in Paris entstandene Novelle Learsi über die Außenseitersituation der deutschen Juden wurde nicht verlegt.[4] Allein der Vortragstext Pathologie de la liberté (Pathologie der Freiheit) erschien in zwei Teilen 1935/36 in der Fachzeitschrift Recherches Philosophiques. Jean-Paul Sartre sagte dazu, der Text habe Einfluss auf die Entstehung des Existentialismus gehabt.[5]
Ein Großcousin von Günther Anders, Walter Benjamin, wurde von Hannah Arendt unterstützt, als er ebenfalls 1933 nach Paris ins Exil ging und dort fast mittellos war; zwischen ihnen ist ein reger Briefwechsel überliefert.
Während Arendt durch ihre Arbeit für zionistische Flüchtlingsorganisationen Geld verdiente, konnte Anders im Pariser Exil kaum etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen. Unter anderem wegen der wirtschaftlich und menschlich schweren Bedingungen des gemeinsamen Lebens im Quartier Latin zerbrach die Ehe schließlich. Schon vor der Scheidung 1937 hatte Arendt ihren späteren zweiten Ehemann Heinrich Blücher kennen gelernt.
Emigration in die USA
Aus Sorge vor dem sich anbahnenden neuen Weltkrieg reiste Günther Anders 1936 weiter nach New York. Anders’ Vater, der Professor in North Carolina geworden war, unterstützte ihn in der ersten Zeit. Anders bekam Schwierigkeiten mit der US-Bürokratie, die ihn bereits vor der McCarthy-Ära als Linken verdächtigte. Die Einbürgerungspapiere erhielt er erst nach vielen Jahren.
Vielerlei Gelegenheitsarbeiten prägten die folgenden vierzehn Jahre im amerikanischen Exil. Er schrieb allerdings auch Artikel für die deutschsprachige jüdische Zeitschrift Aufbau und veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten in der Austro-American Tribune. Günther Anders war Hauslehrer bei Irving Berlin, versuchte sich mehrfach erfolglos als Drehbuchautor in Hollywood, war in einem Museum angestellt, arbeitete zeitweise im Kostüm-Fundus eines Filmateliers und in Fabriken in Los Angeles. Über seine Schilderungen in den Tagebüchern hinaus, hat er die Erfahrungen dieser Zeit in sein Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen einfließen lassen.
Um eine Stelle beim damaligen Office for War Information (OWI) anzutreten, kehrte er aus Kalifornien nach New York zurück. Diese Regierungsbehörde stellte Informationen in vielen Sprachen zusammen, die in dem von den Nationalsozialisten besetzten Europa über Rundfunk verbreitet wurden. Nach mehreren Monaten stellte Anders seine Tätigkeit mit der Begründung ein, er sei nicht vor dem Faschismus geflohen, um nun amerikanische faschistische Broschüren für Deutschland herzustellen.[6]
Schließlich bekam Anders doch noch eine akademische Anstellung als Dozent (Lecturer). An der New Yorker New School for Social Research hielt er Vorlesungen zur Philosophie der Kunst. Seine Vortrags- und Seminarreihe umfasste Interpretationen von Rembrandts Gemälde Segen Jakobs ebenso wie Analysen von Liedern Franz Schuberts. Die Studenten mit ihrer ständigen Belastung durch Prüfungen waren durch die Breite von Anders' Vorlesungen überfordert. Günther Anders sah in den studentischen Problemen eine Störung der Spontaneität durch die in den 1940er Jahren übliche psychoanalytisch geprägte Ausdrucksweise.
Nachkriegszeit
Hiroshima und Nagasaki
Der Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 markierte den dritten Wendepunkt im Leben Anders'. Er habe als Schriftsteller jahrelang nicht darauf reagieren können, weil seine Seele und sein Körper streikten, während er intellektuell verstanden habe, dass es nun möglich sei, das gesamte Leben auf der Erde auszulöschen.[6] Erst nachdem er 1950 dauerhaft nach Europa zurückgekehrt war, gelang ihm eine Darstellung des Ereignisses im Kapitel Über die Ursachen unserer Apokalypseblindheit im ersten Band von Die Antiquiertheit des Menschen.
Anders war zusammen mit Robert Jungk einer der maßgeblichen Initiatoren der internationalen Bewegung gegen Kernwaffen und fuhr 1958 zum Jahrestag des Abwürfe nach Hiroshima und Nagasaki. Seine Erlebnisse und Gedanken dort schilderte er in seinem 1959 veröffentlichten Essay Der Mann auf der Brücke. Der Schriftsteller begann 1959, durch einen Artikel in Newsweek angeregt, einen Briefwechsel mit dem ehemaligen Luftwaffenpiloten Claude Eatherly, der die Wetterbedingungen über Hiroshima erkundet hatte und sich so als Mitverantwortlicher schuldig und von den Tausenden von Toten verfolgt fühlte und zwei Suizidversuche unternommen hatte. Anders nahm die Schuldgefühle Eatherlys ernst und reagierte ungehalten auf ein kritisches Buch des Journalisten William Bradford Huie.[7]
Weitere Ehen
Von 1945 bis 1955 war Anders mit der österreichischen Schriftstellerin Elisabeth Freundlich verheiratet, die er als Redakteurin des Feuilletons der Austro-American Tribune in New York kennengelernt hatte. Mit ihr kehrte er 1950 in ihre Heimatstadt Wien zurück. Sie wohnten zuerst bei den Eltern der Brüder Christian und Engelbert Broda. Durch Vermittlung Christians erhielten sie rasch die österreichische Staatsbürgerschaft (im Falle von Elisabeth Freundlich: zurück).
In dritter Ehe heiratete er 1957 die amerikanisch-jüdische Konzertpianistin Charlotte Zelka (eigentlich: Zelkowitz), die 1972 die Lebensgemeinschaft damit beendete, dass sie von einer Besuchsreise zu ihrer Familie nicht mehr aus den USA zu ihm zurückkehrte. Die Ehe wurde nie geschieden. Der Kontakt zu Anders beschränkte sich nach der Trennung auf Briefe, Telefonate und gelegentliche Besuche, auch bei Elisabeth Freundlich, zu deren Gunsten sie eine notarielle Verzichtserklärung auf die künftige Hinterlassenschaft von Günther Anders hinterlegte.
In den späten 1980er Jahren wohnte der Schriftsteller, behindert durch eine schmerzhafte Polyarthrose, wieder bei Elisabeth Freundlich und führte bei der nahezu Erblindeten den gemeinsamen Haushalt.
Freier Schriftsteller
1950 bis 1968
Günther Anders lebte ab 1950 dauerhaft in Wien, da ihm weder die Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauers noch Walter Ulbrichts DDR zusagten. Die ihm von Ernst Bloch angetragene Professur für Philosophie an der Universität Halle schlug er aus, da er schon seit Freiburger Tagen unter Allergie gegen stereotype philosophische Schulausdrücke litt[6]. Er zog es vor, als freiberuflicher Schriftsteller zu arbeiten, für den Rundfunk zu schreiben und Theaterstücke zu übersetzen.
Sein Buch Kafka pro und kontra, das 1951 bei C. H. Beck erschien,[8] öffnete Anders die Tür u.a. zur Münchener Zeitschrift Merkur, deren Herausgeber Hans Paeschke mehrere Kapitel des ersten Bandes seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen vorabdruckte. Einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin schlug Günther Anders 1959 aus. 1961 bzw. 1962 veröffentlichte er Bücher über George Grosz und Bertolt Brecht, die er beide in seiner Berliner Zeit und im Exil persönlich kennengelernt hatte.
In dem 1964 erschienenen Wir Eichmannsöhne setzte sich Anders mit dem Holocaust auseinander. 1967 war er an Bertrand Russells Tribunal gegen Kriegsverbrechen (Russell-Tribunal) als Juror beteiligt. Sein essayistisches Werk Visit beautiful Vietnam[9] kritisierte den Vietnamkrieg im Geiste der 68er-Bewegung.
1970 bis 1992
Technikkritik übte Anders in einigen Werken seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte: Der Blick vom Mond über die erste Mondlandung, Endzeit und Zeitenende über die Atombombe und schließlich der zweite Band seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen sind Beispiele dafür. Das erste Buch enthält neben einer Einleitung über die drei industriellen Revolutionen insgesamt 25 Essays zur zeitgenössischen Technik und Wissenschaft und zu Definitionen und Aspekten von Humanität. Die Essays verbindet die Frage, inwieweit der Begriff Antiquiertheit auf bislang gültige Begriffe und Vorstellungen angewendet werden kann.
Mit seinen jüdischen Wurzeln und der Geschichte des Judentums beschäftigte sich Anders in einem Kapitel des Sammelbands Mein Judentum und den Bänden Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966 und Holocaust 1979. In den Ketzereien schilderte Anders Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Vertretern von Religionen und Weltanschauungen. 1982 verließ er die Israelitische Kultusgemeinde Wien aus Protest gegen den israelischen Libanon-Feldzug.
1985 lehnte Anders den Andreas-Gryphius-Preis aus politischen Gründen ab, ebenso wie 1992 die Ehrendoktorwürde der Universität Wien. Seine Haltung zur Gewaltfrage - Anders fragte, ob Attentate auf Betreiber von Atomkraftwerken legitim seien - löste intensive Diskussionen aus. Der in der 1930er Jahren aus einzelnen Geschichten kompilierte Roman Die molussische Katakombe kam erst in seinem Todesjahr 1992 in die Buchläden. In dem Roman setzte sich der Autor mit den psychologischen Mechanismen auseinander, die den Nationalsozialismus ermöglicht hatten.
Anders starb am 17. Dezember 1992 in Wien und wurde in einem ehrenhalber gewidmeten Grab auf dem Hernalser Friedhof (Gruppe U2, Nummer 2) in Wien beigesetzt.
Philosophie
Anders nimmt an, dass einzelne Phänomene Rückschlüsse auf die gesamtgesellschaftliche Situation zulassen, so z.B. das Fernsehen oder die Atombombe. Im Unterschied zu Edmund Husserl führt er eine Zeitdimension der Phänomene an, die zeigen soll, dass sich ihr Wesen im Laufe der Zeit verändere.
Er geht davon aus, dass dem Menschen eine strukturale historische Wandelbarkeit und eine ontologische Differenz zur Welt eigen sei. Die Identität des Menschen sei also nicht ein für allemal festgelegt (negative Anthropologie), was die Voraussetzung für positive Freiheit und für die Schaffung einer unwandelbaren eigenen Welt bzw. Umwelt, Wissenschaft, Kunst etc. sei.
Technikphilosophie
Seine Kritik an der Zivilisation in der Mitte des 20. Jahrhunderts setzt am Gefälle zwischen der Unvollkommenheit des Menschen und der immer größer werdenden Perfektion der Maschinen an. Dieses Phänomen nennt Anders prometheisches Gefälle. Hiermit verknüpft er die prometheische Scham, d.h. die von dem Wunsch, selbst wie eine Maschine zu sein, erzeugte Scham des Menschen angesichts der eigenen Unterlegenheit gegenüber seinen technischen Schöpfungen.
Die Diskrepanz zwischen der Leistungsfähigkeit des Menschen und der seiner Geräte werde größer, seit das Werkzeug als Verlängerung und Verbesserung menschlicher Organe durch die Maschine mit ihrer Eigendynamik ersetzt werde; dies sei der Beginn der Antiquiertheit des Menschen gewesen. Das Mensch-Sein – im Grunde das Leben überhaupt – erscheine nun als antiquierte Daseinsform; der Mensch erzeuge Produkte, mit denen er sich selbst überflüssig mache. Das benannte Gefälle zwischen dem, was der Mensch sich vorstellen, und dem, was er herstellen kann, legt eine weitere Bedeutung des Ausdrucks Antiquiertheit des Menschen nahe: Der Mensch ist Anders zufolge in seinen Möglichkeiten des Denkens, des Vorstellens antiquiert, d.h. rückständig gegenüber dem, was er herzustellen imstande ist.
Techniken sieht Anders nicht als wertneutrale Mittel zum Zweck: Durch die Vorgabe der Geräte sei ihre Anwendung bereits festgelegt. Spezifische ökonomische, soziale und politische Verhältnisse produzierten Maschinen, die ihrerseits spezifische ökonomische, soziale und politische Veränderungen nach sich zögen; Technik werde so vom Objekt zum Subjekt der Geschichte. Der Mensch aber könne die strukturelle Macht der Geräte nicht mehr erkennen, Sachzwänge emotional und kognitiv nicht mehr bewältigen und empfinde sich als mangelhaft. Die strukturelle Überlegenheit der Geräte habe sowohl positive Folgen, z.B. Erleichterung der Arbeit, als auch negative, z.B. das Verschwinden der Zielgerichtetheit von Arbeit. Der Mensch sei nurmehr ein für die Wartung zuständiger Objekthirte der Geräte geworden.
Fernsehen
Seine Kulturkritik zeigt sich auch an der Haltung zum Fernsehen. Anders postuliert, dass das Fernsehen über Sachverhalte immer nur einen Teil aussage, nie alles. Dem Menschen als Empfänger der Fernsehinformation wird Objektivität vorgegaukelt, er wird der Urteilsarbeit enthoben, ihm wird die Idee suggeriert, er könne über Abwesendes verfügen, was er als Machtzuwachs empfindet. Die Differenz zwischen Ereignis und Abbild wird laut Anders ausgelöscht, daraus folgt eine strukturelle Täuschung über die Abhängigkeit des Konsumenten von bereits gefällten Urteilen (ontologische Zweideutigkeit).
Es ist demnach gleichgültig, was gezeigt wird, relevant ist lediglich, dass es überhaupt gezeigt wird: Das Fernsehbild gibt vor, das Abbild der Realität zu sein und wird so zum Vorbild für gerade diese Realität. Das führt zu dem Bumerang-Effekt. Der Mensch richtet sich nach dem Abbild der Wirklichkeit, und die Realität wird auf diesem Wege zu diesem verzerrten Abbild. Auf einmal stimmt, was im Fernsehen zu sehen ist: Die Lüge hat sich wahr – gelogen.
Das Fernsehen produziert überdies einen bestimmten Typ des Menschen: den vereinzelten Masseneremiten. Es stellt einen negativen Familientisch dar: Es gibt nunmehr keinen gemeinsamen Mittelpunkt mehr, sondern nur noch einen individuellen Fluchtpunkt.
Atombombe
Der Gelehrte behandelt drei Fragekomplexe:
- Was für ein Wesen, phänomenologisch betrachtet, ist die Bombe? Welche Maximen lassen sich daraus ableiten, und was bedeutet das für die Weltpolitik?
- Was bedeutet die Existenz der Bombe und das mit ihr verbundene Vernichtungspotenzial geschichtsphilosophisch für das Selbstverständnis des Menschen?
- Was hindert die Menschheit daran, die atomare Situation angemessen wahrzunehmen, welchen Verharmlosungsstrategien unterliegt sie, und wie lässt sich dieser Blindheit begegnen?
Nach Anders kann die Bombe in keine Zweck-Mittel-Kategorien eingeordnet werden: Als Mittel ist sie nur einsetzbar, wenn sie nicht eingesetzt wird, also zur Abschreckung; nicht eingesetzt wird sie, wenn jederzeit mit ihrer Einsetzbarkeit gedroht werden kann bzw. gerechnet werden muss, d. h. ihr Da-Sein ist ihr Einsatz. Die Bombe ist außerdem allmächtig: Sie erpresst alle oder keinen. Im Grunde stellt dies eine „Selbsterpressung“ der Menschheit dar. Der menschliche Traum von der Allmacht wird negativ erfüllt: Wir besitzen die Macht, der Welt ein Ende zu bereiten, und sind die Herren der Apokalypse geworden. Durch die Möglichkeit, die Menschheit auszulöschen, ist die derzeitige Epoche die letzte, denn der Einsatz der Bombe bedeutet die Vernichtung von Vergangenheit und Zukunft.
Es besteht eine Differenz zwischen der Menschheit als potentiellem Opfer und der Pluralität von Mächten, die als Täter in Frage kommen. Der Prozess der massenhaften Vernichtung des Menschen gleicht sich immer mehr der arbeitsteiligen industriellen Produktion an: Keiner tut etwas Böses, jeder nur seine überschaubare Arbeit. Dies wird deutlich in seinem Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eartherly. Das Entsetzliche wird dazu noch durch wissenschaftlichen Jargon, Fachbegriffe, Abkürzungen, falsche Vergleiche und Witze verschleiert und ernüchtert. Der Mensch ist unfähig, diese Situation und ihre immanente Gefahr angemessen wahrzunehmen und ihr kognitiv und emotional angemessen zu begegnen.
Moral
Die technisch veränderte Welt hat, so Anders, die bisherigen Moralformen liquidiert. Der Anspruch einer neuen Moralität und Humanität bewirkt den Fortbestand der Menschheit. Weder Moral noch Existenz der Gattung Mensch lassen sich Anders zufolge logisch begründen; Humanität hat praktisch zu sein.
Da das Produkt und seine Herstellung auseinandergerissen werden, wirft der moralische Status eines Produktes, beispielsweise Giftgas oder die Wasserstoffbombe, scheinbar keinen Schatten auf die Moral dessen, der arbeitend an dieser Produktion teilnimmt. Der Beteiligte wird somit moralisch entlastet.
Die Aufgabe unserer Epoche ist es, den Menschen der Maschine gegenüber Souveränität zu verleihen und drohende atomare und technisch induzierte ökologische Katastrophen abzuwenden. Er fordert jedoch keine blinde Technikfeindlichkeit, sondern vernünftige Reflexion und daraus folgende, notfalls auch gewalttätige Aktionen.
Der Mensch muss „moralische Phantasie“ ausbilden, also das Gefühl für die Wahrnehmung des „Undenkbaren“ schulen, um Folgen abschätzen zu können und einen universellen hippokratischen Eid ablegen zu können:
- keine Arbeiten anzunehmen und durchzuführen, ohne diese zuvor darauf geprüft zu haben, ob sie direkte oder indirekte Vernichtungsarbeiten (sind); die Arbeiten, an denen wir gerade teilnehmen, aufzugeben, wenn diese sich als solche direkten oder indirekten Vernichtungsarbeiten erweisen sollten.[10]
Ergänzungen dazu bietet ein biographischer Artikel von
Milosavljevic Sanela
über GÜNTHER ANDERS:
"Günther Anders (pseudonym für Günther Stern) geboren am 12.Juli 1902 in Breslau als Sohn des Psychologenpaares Clara und William Stern. Nach dem Studium der Philosophie bei Cassirer, Heidegger und Husserl promovierte er 1923 bei Husserl (...)
Anders veröffentlichte als erstes Nachkriegsbuch eine Arbeit über Kafka. In ihr greift Anders seinen zentralen Gedanken auf, “Mensch ohne Welt”. Anders verwarf alle mystifizierenden Interpretationen und sah in Kafka weder einen Allegoriker noch einen Symboliker, sondern “den Realisten der entmenschten Welt”, der zwar vor dieser Welt erschrickt, aber seinen Schrecken nicht in eine Warnung umsetzt. Er kritisierte Kafka, da dieser zwar das Paradies verlangt, aber er will es nicht herstellen sondern nur betreten, und so entstand die These von Anders, dass der Mensch auf keine bestimmte Welt festgelegt, sondern vielmehr darauf angewiesen sei, sich seine Welt erst zu schaffen, und dass er zu dieser Freiheit seiner Unfestgelegtheit verurteilt sei. Als weltlos sah Anders die Arbeitslosen, da sie innerhalb einer Welt lebten, die nicht für sie da ist und die sie auch nicht selbst für sich schaffen können. Er ist auch der Meinung, dass nicht der Mensch “Herr der Schöpfung” ist, sondern die Technik, der er als defizitäres und antiquiertes Wesen gegenübersteht. Seine Stilformen sind bewußt antimodernistisch, also klassisch und damit ebenso wenig überholbar wie ihre Inhalte. Er ist ein Außenseiter der neueren Philosophiegeschichte, der sich bis ins hohe Alter polemisch einzumischen pflegte und zuletzt noch in der Anti-Atombewegung aktiv war. Seine Methode ist die, dass er durch Übertreibungen Wahrheiten ans Licht bringt. Er hat großes Mißtrauen gegenüber jeder Art von akademischer Philosophie, und zu sehr war für ihn die Stellung des Menschen auf der Welt gefährdet, so daß er “Gelegenheitsphilosophie” betrieb." mehr...
Die Medienkritik von Anders vertieft ein Aufsatz von Katharina Hartmann:
Medienkritik in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
Günther Anders: Die Welt als Phantom und Matrize
"In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren einige Medien wie Fernsehen und Hörfunk noch relativ neu, zumindest in den Haushalten als alltägliches Medium. So haben sich einige Kritiker gegen diese Medien gewandt, wie auch Günther Anders, der in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen unter dem Teil Die Welt als Phantom und Matrize die Medien Radio und Hörfunk (Anders benutzt dafür den Begriff Rundfunk, der aber heute Fernsehen und Hörfunk zusammenfasst) kritisiert. Der erste Band von Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution besteht aus drei verschiedenen Hauptteilen. Über prometheische Scham, Die Welt als Phantom und Matrize und Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit. Diese Teile werden durch die kurze Auseinandersetzung mit Becketts Stück En attendant Godot in dem Teil Sein ohne Zeit ergänzt. Wie bereits erwähnt soll Gegenstand dieses Aufsatzes die medienkritische Reflexion von Anders Die Welt als Phantom und Matrize sein..." mehr
FAZ-Rezension:
Günther Anders' Medienkritik und die Zerstreuung
Professor Harold Marcuse widmet Anders eine Website:
Günther Anders
Guenther Anders, Gunther Anders
Journalist, Philosopher, Essayist, 1902-1992
(Professor at UC Santa Barbara):
Anders' Publications (back to top)
- 1924 dissertation (Universität Freiburg): Die Rolle der Situationskategorie bei den logischen Sätzen. Erster Teil einer Untersuchung über die Rolle der Situationskategorie
- 1928 (edited version of dissertation??): Über das Haben: Sieben Kapitel zur Ontologie der Erkenntnis
- Bonn: Cohen
- 1932 (completed): Die molussische Katakombe
- first published in 1992
- €25 at amazon.de, with summary
- 1936: "Pathologie de la Liberté"
- in the journal Recherches Philosophiques
- Sartre said that this essay was influential in his formulation of Existentialism
- 1936: Der Hungermarsch
- novella, won Novella Prize of the Emigration in 1936
- 1948: "On the Pseudo-Concreteness of Heidegger's Philosophy"
- in: Philosophy and Phenomenological Research, vol. 3, 1948
- author's name: Günther Stern-Anders
- 1951: Kafka Pro und Contra: Die Prozessunterlagen
- English 1960
- 1956: Die Antiquiertheit des Menschen
- Munich: Beck, 2002. €13 at amazon.de
- title translates as: The Outdatedness of Human Beings
- published 2002 in French as L'obsolescence d'homme: Sur l’âme à l’époque de la deuxième révolution industrielle, by Encyclopédie des nuisances. (amazon.fr page)
(French table of contents) - blurb about Antiquiertheit vol. 1 in a list of book recommendations published in Die Welt, 9 Nov. 2002 (archive copy).
- Dr. Frank Hartmann, lecture about Antiquiertheit vol. 1 in a course about Media Philosophy at the University of Vienna
- 1959: Der Mann auf der Brücke: Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki
- Munich, C. H. Beck, 2nd edition 1963
- in: Hiroshima ist überall, 1982, pp. 1-190
- title translates as: The Mann on the Bridge
- 1961: George Grosz
- Zürich, Arche
- 1961: Burning Conscience: The Case of the Hiroshima Pilot Claude Eatherly, told in his Letters to Günther Anders
- (New York/London: Weidenfeld and Nicolson, 1961), 135 pages
- preface by Bertrand Russell and introduction by Robert Jungk.
- $10 at amazon.com
- German: Off Limits für das Gewissen: Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders
- Berlin, Rowohlt
- also in: Hiroshima ist überall, 1982, pp. 191-360.
- French: Avoir détruit Hiroshima: Correspondance de Claude Eatherly, le pilote d’Hiroshima, avec Günther Anders 1959, éd. Robert Laffont, 1962.
- 1962: Bert Brecht: Gespräche und Erinnerungen
- Zürich, Arche
- 1964: "Die Toten: Rede über die drei Weltkriege"
- title translates as "Speech about the Three World Wars"
- completed October 18, 1964
- FAZ 1964; Cologne: Pahl-Rügenstein, 1965
- in: Hiroshima ist überall, 1982, pp. 361-394
- short excerpttranslated by Harold Marcuse, for use in the memory to action project
- 1964: Wir Eichmannsöhne: Offener Brief an Klaus Eichmann
- title translates as We Sons of Eichmann: Open Letter to Klaus Eichmann
- in French: Nous, fils d'Eichmann: lettre ouverte à Claude Eichmann (1999, 2003) (amazon.fr EUR 7)(table of contents--scroll down)(bibliothèque Rivages, 1999)
- 1965: Philosophische Stenogramme
- 1968:Der Blick vom Turm: Fables
- (Munich: Beck, 1988), with illustrations by A. Paul Weber, €15 at amazon.de
- fable "freedom", illustrates the concept of repressive tolerance, translated by Harold Marcuse
- 1968: Nürnberg und Vietnam: Synoptisches Mosaik
- Berlin, Voltaire
- 1968: Visit beautiful Vietnam
- Köln, Pahl-Rugenstein
- collection of quotations on freenet.de
- 1970: Der Blick vom Mond: Reflexionen über Weltraumflüge
- 1972: Endzeit und Zeitenende
- 1978: Kosmologische Humoreske
- 1979: Besuch im Hades: Auschwitz und Breslau 1966, nach "Holocaust" 1979
- 1980: Die Antiquiertheit des Menschen, vol. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution.
- €13 at amazon.de (5th edition; page has a few reviews)
- 1981: Die atomare Drohung: Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter
- 1982: Hiroshima ist überall
- Munich: Beck
- 1982: Ketzereien
- (Munich: Beck, 1982)
- title translates as Heresies
- 1984: Mensch ohne Welt: Schriften zur Kunst und Literatur
- 1984: Das Günther Anders Lesebuch
- Zurich: Diogenes, 1984), 335 pages
- edited by Bernhard Lassahn
- UCLA PT2601.A54 A14 1984
- 1985: Tagebücher und Gedichte
- 1986: Lieben gestern
- Observations about US students in the 1940s, originally titled "Lieben heute"
- 1987: Günther Anders antwortet: Interviews & Erklärungen
- (Critica diabolis)(Tiamat, 1987), 203 pages.
- 1987: Gewalt – ja oder nein: Eine notwendige Diskussion
- title translates as: Violence: Yes or No? A Necessary Discussion
- full text as scanned images on this site
- collection of quotations on freenet.de
- 1987: Mariechen: Eine Gutenachtgeschichte für Liebende, Philosophen, ...
- 1987: "Reicht der gewaltlose Protest?"
- taz, 9 May 1987 (archive copy)
- title translates as "Is non-violent protest enough?"
- 16. Juli 1987 response by Horst Mahler, "Ist Dein Mut zu töten wirklich so gross?"
open letter to the philosopher Günther Anders
- 1988: "Die Augenbinde der Justitia"
- subtitle: Fünf philosophische Überlegungen anläßlich des Prozesses gegen Robert Jungk"
- in: taz 16. April 1988, p. 3
- 1988: "Sicherheit durch die Zerstörung der Zerstörungsmittel"
- title translation: "Security through the destruction of the means of destruction"
- greeting to the International Physicians for the Prevention of Nuclear War
- text on the IPPNW website
- 1994: Obdachlose Skulptur: Über Rodin (C.H. Beck, 1994), 124pp. (amazon)
- 2001: Über Heidegger, edited by Gerhard Oberschlick (Munich, C. H. Beck, 2001), 480p. €35.
- posthumous publication of selections from Anders' papers
- "Die Texte in diesem Band dokumentieren diese Auseinandersetzung und zeichnen den Weg der langsamen Ablösung von Heidegger, dem "heimlichen König" der deutschen Philosophie (Hannah Arendt), nach. Anders kehrte sich von 1930 an ebenso regelmäßig von der Philosophie ab, wie er sich ihr wieder zuwandte; zeitlebens suchte er die politische Intervention. Seine Arbeiten über Heidegger zeugen von kritischer Angriffslust, von stilistischer Schärfe, aber auch von seinem philosophischen Ernst. Denn Anders’ Einwendungen gegen Heidegger sind mehr als äußerliche Ideologiekritik. Es finden sich bei ihm Einwände, die in den Kern von Heideggers Denken selbst eingreifen."
- perlentaucher.de page with reviews from the FR, Zeit, SZ, NZZ, FAZ
- 2003: Übertreibungen in Richtung Wahrheit: Stenogramme, Glossen, Aphorismen
- posthumous publication of selections from Anders' papers